Mein Magdeburg Nazifrei (Januar 2013)

Von Professor Mühsam

04:00 Uhr, der Wecker klingelt; aufstehen, warme Sachen raussuchen, wo ist mein Cowboy-Unterhoseneinteiler? Es hat geschneit, bestimmt kalt draußen. Alles anziehen, Kaffeewasser aufsetzen, Kaffee aufgießen, Stullen schmieren, Teewasser kochen, die Katzen nerven, der Kater schreit nach seinem Futter, also erst mal die Tierchen, ich hab 50 Minuten, nicht nachdenken, die Nacht war kurz, egal, wir müssen den Bus nach Magdeburg an der O2 World erwischen; Kaffee ist fertig, Stullen und Thermoskanne mit Tee in den Rucksack rein, Zigarette drehen, anzünden, Kaffee in die Tasse, Mich, Zucker, umrühren, trinken, gut, weiter, was fehlt? Uhrzeit? 04:48, ich muss los. Jacke rüber, Mütze auf den Kopf, Schuhe anziehen, raus aus der Wohnungstür, um die Uhrzeit durchs Treppenhaus rennen geht gar nicht, Aufzug randrücken, rein, runter, raus aus dem Aufzug, um die Ecke hechten, Tür aufdrücken: Rusk sitzt schon da, Überraschung!

Mein Freund Rusk; wir begrüßen uns, lächeln, los geht’s. Wir laufen rüber zur Tram, fünf Minuten sollten reichen, an der Haltestelle warten wir zwar nur kurz, ich bin aber schon froh dass ich mein Ganzkörperunterwäschecowboyteil gefunden habe und jetzt gut isoliert bin, da kommt die Tram, wir steigen ein. Die Nachtschwärmer sind unterwegs, aber es gibt genug Sitzplätze, Rusk erzählt mir was heute los ist; ich komme heute zum spontan mit, er war in den letzten Jahren immer in Dresden, ich nur letztes Jahr als der Nazi-Spuk dort vorbei war, Rusk hat schon einiges erlebt bei den Blockaden in den Jahren davor, gegen die Nazis. Wir quatschen darüber, was die Woche los war, warn beide jeden Abend auf Achse, in gemeinsamen politischen Projekten und jeder dazu in seinen eigenen, dann tagsüber noch Lohnarbeit um Kohle zu verdienen, das schlaucht; mit eigenen Kindern und Verantwortung für Nachwuchs ginge das alles gar nicht!

Warschauer Straße, Endhaltestelle, also raus aus der Tram, Rusk muss pissen, kein Problem, wir sind gut in der Zeit, 05:25 Uhr; jetzt rüber zur O2 World latschen, die riesige Sauerstoffwerbemuschel liegt hell erleuchtet da; war noch nie drin, heute laufe ich auch dran vorbei, ich glaub da muss ich auch nicht mehr rein in meinem restlichen Leben.

05:35 Uhr, am Treffpunkt stehen schon ein paar Dutzend Leute rum, jung sind die alle, in den Zwanzigern, höchstens Dreißigern; Rusk und ich haben ja schon jeweils fast fünfzig Sonnenumrundungen hinter uns auf diesem Planeten. Durch ein Megafon wird eine Ansage gemacht, ich rauche nochmal eine Zigarette, bis 06:15 Uhr sind dann an die 300 meist junge Antifas in die sechs Busse gestiegen, in unserem Bus sitzen auch Genoss*innen aus dem Landes- und Bundesvorstand und natürlich unsere nette Genossin MdB; sie hat schüchtern gelächelt beim Einstieg, super dass die mit dabei sind, die haben ja alle sonst auch genug zu tun; als Grüppchen erscheinen die immer sehr unter sich und etwas unnahbar; aber das brauchen die bestimmt auch, um nach so einer Woche mal Dampf abzulassen in ihrem kleinen Biotop, der Apparat macht die bestimmt ganz schön fertig.

06:30 Uhr: Abfahrt, der Bus rollt, schön warm hier drin, Ansagen werden gemacht, Telefonnummern durchgegeben, Infos was vor Ort abgeht. Rusk und ich sitzen ganz vorne, wie früher, ich war Streber und saß in der Schule auch immer vorne, unsere Genoss*innen haben es sich weiter hinten gemütlich gemacht, waren also keine Streber; wir quatschen über Gott und die Welt, im Besonderen was wir diese Woche erlebt haben, ich wollte jetzt eigentlich pennen, geht aber nicht, Rusk kriegt auch kein Auge zu; Um 07:55 Uhr sind wir am letzten Rastplatz vor Magdeburg, Ansage: „Hier bleiben wir bis ca. 09:00 Uhr, die Lage in Magdeburg ist noch unklar“, also gut. Kaffee und eine Zigarette, gemeinsam mit Rusk pullern neben dem Bus, dann wieder rein, es ist kalt, minus drei Grad, vielleicht kann ich jetzt ja eine Stunde pennen. In der Busglotze vorne beim Fahrer läuft eine Comedy-Show, ein dauerwellengelockter Vollspast macht sexistische Witze vor einem riesigen Publikum; einer unserer jungen Antifas beschwert sich leise über diesen frauenfeindlichen Quatsch; ein anderer lacht; wird jetzt darüber abgestimmt? Rusk und ich kommentieren die Scheiße und lästern ab; so geht die Zeit auch rum; 09:15 Uhr, wir fahren weiter; Ansage dass wir mit einer Kontrolle rechnen müssen, der Deal mit der Staatsmacht ist, dass wir in diesem Fall einer Kontrolle alle gesittet aussteigen und uns vor dem Bus aufstellen sollen, dann würden jeweils ein paar der Michelinmännchen im Kampfanzug (wobei, es gibt jetzt ja auch Weibchen bei der Polizei, das nenne ich Emanzipation) mit unseren Anwältinnen durch den Bus laufen, dann ginge es weiter. Genauso passiert es auch, eine kleine Schikane am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen und verbindet uns, wir können in Grüppchen rumstehen und quatschen. Ein Kameramann von Ver.di ist auch im Bus und begleitet eine ca. 80 jährige Antifaschistin und dokumentiert das mit der Kamera. Er fragt Rusk ob er ihn interviewen kann, ich darf das Mikro halten, er lobt mich für meine ruhige Hand. Rusk geht sogar noch pissen. Endlich geht es weiter, einsteigen und los. Dann die Durchsage dass wir nun doch direkt nach Magdeburg in die City über die Elbe fahren, die Nazis sollen am Hauptbahnhof aus ihren Zügen aussteigen.

10:30 Uhr: Wir sind da, die Sonne scheint, toller blauer Himmel, es ist weiterhin arschkalt, aus den Bussen strömen viele junge Antifas, unsere Genossinnen aus dem Apparat, die grüne Jungend ist auch da, toll, Rusk und ich trollen uns als erste aus unserem Bus, wir saßen ja vorne. Alle sammeln sich auf einem fast leeren Parkplatz; kurze Ansage: wir laufen gemeinsam ohne Fahnen ins Zentrum, und nehmen dort an der Antifa-Demo Teil, nördlich der „Meile der Demokratie“. Was ist die „Meile der Demokratie?“ Rusk weiß alles, „Das sind die sogenannten Bürgerlichen, die machen da Ihre eigenen Aktion gegen die Nazis. Ich bin gespannt, die junge Antifa will diese Meile schützen und es soll kein Nazi ins Stadtzentrum kommen, das ist das Nahziel.

Die jungen Antifas werden immer schneller, laufen eng zusammen, wir mitten drin, dann die ersten rituellen Gesänge, gegen Nazis, Spanisch ist sehr beliebt bei der Jungend, wir biegen auf einen schönen Platz, es ist Markttag, eine goldene Statue sticht mir ins Auge, blinkt, keine Zeit für sight seeing, die ersten Bullen tauchen auf, wir sind ziemlich weit hinten, zwanzig Bullen folgen uns in Doppelreihe, das haben die gelernt, arme Schweine. Die ersten Passanten sehen uns verwundert und irritiert an; Plötzlich kurz vor dem Nordende der „Meile der Demokratie“: „Kommando zurück, falsche Richtung, wo geht es denn hier zum Bahnhof?“. Also zurück, ein Ehepaar guckt verduzt. „Wir üben noch, keine Angst“ rufe ich ihnen zu, sie lachen. Die Bullen hinter uns schauen auch konsterniert aus der Wäsche und bleiben erst mal stehen. Dann wieder Kommando zurück, war doch richtig, der ganze Haufen raus auf die Einkaufsmeile, schnell weiter Richtung Norden, weg von der „Meile der Demokratie“, wir treffen die Lokalmatadoren unserer jungen Antifa; Ein Lauti legt los und macht Ansagen, „wir machen jetzt Demo zum Hauptbahnhof“; Zeit eine Stulle zu essen, Rusk und ich kauen, sehen, laufen, quatschen, überall die cops um uns rum, Gesänge, wo ist denn dieser blöde Bahnhof? Plötzlich stoppt die Demo, wird für beendet erklärt, die Menge teilt sich, wo ist der Bahnhof, ein erster Haufen fließt direkt Richtung Bahnhof, wie wir später feststellen, der andere nimmt einen Umweg, wir folgen dem zweiten, na bravo, dann ein Platz, sammeln, Pause, zehn Minuten verschnaufen. Dann weiter, weg vom Bahnhof, Richtung Süden, Verwirrung, die Bezugsgruppen diskutieren, aber immer mehr folgen der größten Gruppe; jetzt wird gerannt, immer schneller. Nee, das geht ja gar nicht, Rusk und ich werden langsamer. „Ich bin zu alt und ausgepumpt dafür, in dem Tempo überlebe ich den Tag nicht“. Rusk nickt.

Die Bullen sperren vor uns ab, wir biegen mit ein paar anderen langsam wieder Richtung „Meile der Demokratie“. Mittlerweile sind überall kleine Grüppchen junger Antifas unterwegs, die Bevölkerung scheint noch zu schlafen, eigentlich sympathisch, wer steht schon gerne am Samstag früh auf? Eine Rauchbombe, grüner Rauch, der Hubschrauber über uns knattert; „Wenn wir dem Hubschrauber folgen finden wir die schon wieder, die junge Antifa kreist jetzt um die „Meile der Demokratie, über ihnen der Schrauber, die laufen schon nicht weg“, beruhige ich Rusk, der wohl noch nicht weiß ob er mit meiner Entschleunigungstaktik einverstanden ist. Er nickt, meine ad hoc Theorie scheint ihn zu überzeugen. Zigarettenpause. Ich lasse meinen Blick horizontal schweifen. Wow, ich war noch nie in Magdeburg, macht einen guten Eindruck, die Stadt ist sehr weitläufig. „Das ist eine Folge der massiven Bombardierung im zweiten Weltkrieg“ erzählt Rusk, hier war fett Rüstungsindustrie, „fast alle Gebäude waren am Arsch“. Rusk hat sich im Gegensatz zu mir auf die Stadt vorbereitet.

Und die Leute, die ich jetzt wahrnehme, alle total nett und entspannt; „Ganz anders als in Dresden beim gleichen Anlass die letzten Jahre“, bestätigt Rusk, dort haben ihn die Einheimischen nur grimmig angeguckt. Wir laufen gemütlich Richtung Norden, jetzt sehen wir uns an was auf der „Meile der Demokratie“ los ist und ich lerne die Stadt kennen.

Überall rechts und links auf dem Fußgängerweg bauen Magdeburger Bürgerinnen Stände auf, von Vereinen, Schulen, den Unis, Initiativen, Gewerkschaften, überall günstiges leckeres Essen und Trinken, Feuerstellen zum Aufwärmen, Junge und alte Menschen, die Message ist eindeutig, wir wollen hier keine Nazis, wir beziehen Position an unserem Schulen, in den Vereinen, an den Unis. Was für eine Vielfalt, diese Menschen hier, großartig, auch sie zeigen alle Gesicht gegen das Nazipack.

Dann sehe ich das Hundertwasserhaus, die Perle. Ich bin überwältigt. Es kommt mir schöner und prächtiger vor als das in Wien, sogar schöner als die Gaudi Bauten in Barcelona. Wir laufen drum herum, ich rauche eine Zigarette, wir schlendern in den Innenhof, bleiben stehen und staunen. Magdeburg ist eine Perle.

Langsam spazieren wir aus dem Innenhof raus, weiter Richtung Norden, diese Meile ist ganz schön lang, ist halt eine Meile und kein Kilometer, das sind 600 Meter Unterschied. Ah, die Parteien sind auch hier, unsere LINKE natürlich auch, da sind ja die Genossinnen aus Berlin, schön. MollMoll kommt auf uns zu, „Na was macht Ihr so, lauft rum und guckt Euch wohl die Stadt an?“, „ja, genau, wir sind als Touristen hier“, sagt Rusk. „Komm, lass uns auf der anderen Seite die Meile zurück laufen“, meint er zu mir gewandt, ich nicke, und los, und wir laufen gemütlich ein paar hundert Meter zurück, und gucken weiter was die Leute hier alles aufgebaut haben, mächtig.

„Ich muss pissen“, meint Rusk, also biegen wir ab. Wir finden eine Baustelle, Rusk kann schnell sein Wässerchen abschlagen, bei mir ist die Blase immer noch ruhig. „Komm lass uns zur Elbe laufen, der Hubschrauber scheint auf der anderen Seite zu kreisen, mal sehen was die junge Antifa macht und wo diese scheiß Nazis sind“. Wir trotten Richtung Elbe, überqueren die Straße, setzen uns auf eine Bank an der Uferpromenade, trinken Tee und lassen uns die Sonne auf den Wanst scheinen.

Der Hubschrauber ist jetzt plötzlich wieder im Norden, und hinter uns fahren zwei Wasserwerfer und ein fettes blaues Teil mit Rädern, das auch sehr gefährlich aussieht, vorbei in Richtung Süden. Wir stehen auf, und laufen in dieselbe Richtung entlang der Elbe, mehr und mehr kleine Antifa-Gruppen machen das ebenfalls.

Da steht nach ein paar hundert Metern auf der Uferpromenade eine Trommlergruppe, drei oder vier Cops um sie rum, ganz ruhig, wie ein Standbild; wir biegen rechts ab, wieder Richtung Innenstadt, den Stadtteil südlich der „Meile der Demokratie“. Da noch eine Gruppe im Hinterhof, wieder einige Bullen um sie rum postiert, alle ruhig und gelassen. Weiter geht’s, ein Haufen von 50 Anitfas steht an der ersten großen Kreuzung, Robocops umringen sie ebenfalls. Eine junge Antifa-Frau sitzt auf einer Bank und starrt vor sich hin. „Ich werd paranoid, sind das Spitzel die für den Einsatz vorbereitet werden?“ meint Rusk, „nee, das sind zu viele, die wollten bestimmt zur Elbe durchbrechen und wurden gestoppt, guck mal, da oben an der nächsten Kreuzung, an der Straße die zur Meile der Demokratie führt, da sind noch mehr, lass uns mal da hin laufen“. Wir kommen an der Kreuzung an. Na, hier ist jetzt wieder was los, vielleicht zweihundert junge Antifas stehen ruhig und scheinbar gelöst direkt auf der Kreuzung, umringt von ungefähr fünfzig Bullen, Kameraleute, Journalisten, Touristen, Bürgerinnen stehen weiter außen drum herum. „Ist das ein Polizeikessel?“ fragen wir uns, „nö“, meine ich mit Überzeugung, „also in den Achtzigern sah das anders aus, da waren die Bullen untergehakt und keine Sau konnte rein oder raus“.

Plötzlich tauchen sechs Polizeipferde auf, auf denen jeweils ein schwerbehelmtes uniformiertes Etwas sitzt, auch hier dürfen Frauen mitreiten, das ist zumindest erkennbar. Die sehen aber alle gefährlich aus, diese Kampfuniformen, hammerhart. „Die armen Viecher, das ist doch Tierquälerei“, murmle ich vor mich hin. Die Reiter stellen sich mit ihren Pferden hinter uns aus auf und blockieren die Straße, die wir hierher zur Kreuzung von der Elbe hochgelatscht sind. „Aha, die sollen mit Ihren Pferden aufpassen, dass die jungen Antifas hier nicht durchkommen; Richtung Süden ist auch Totalblockade mit Polizeiwägen, weiter nach oben Richtung Westen ist auch alles dicht, bleibt nur der Weg Richtung „Meile der Demokratie“. Mal wieder Zeit eine Zigarette zu drehen und dann auch konsequent zu rauchen. Rusk und ich sind unschlüssig, diese Ruhe, die gelöste Stimmung der Jugend mitten auf der Kreuzung, die lächeln und machen sogar Witze, irgendwie irritierend. „Komm lass uns zurück Richtung „Meile der Demokratie“ gehen“, schlage ich vor. „Warten wir mal noch einen Moment“, entscheidet Rusk, „ich hab da ein Gefühl“. „Musst du wieder pissen?“ frage ich ihn. Er lächelt. Wir sind schon ungefähr hundert Meter weg von der Kreuzung in Richtung Meile, und stehen erhöht auf einer kleinen grünen Insel, und haben einen guten Überblick.

Da ist die Kreuzung, mitten drin stehen immer noch die relaxed und dicht stehenden ungefähr zweihundert jungen Antifas, „guck mal, da sind auch die netten Leutchen der grünen Jugend mitten drin“, sage ich und zeige mit dem Finger in die Richtung. Drumherum bewegen sich ebenfalls dutzende Menschen, eine Tram wartet ohne Fahrgäste ebenfalls hundert Meter vor der Kreuzung, auf gleicher Höhe mit uns.

Plötzlich taucht ein Dutzend Antifas aus nördlicher Richtung auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf, bewegt sich schnell auf die Kreuzung zu, und skandiert Ihre Sprüche; Bewegung kommt in die Gruppe auf der Kreuzung, eine weitere kleine Gruppe hinter uns legt ebenfalls mit anfeuernden Rufen los, und dann geht auf einmal die Post ab. Wie ein Fischschwarm, der von großen Raubfischen angegriffen wird, rennen plötzlich alle von der Kreuzung aus los, in die einzige Richtung die ihnen die Exekutivorgane lassen, Richtung „Meile der Demokratie“ , links die eine Hälfte, rechts ein großer Haufen, und ein paar ganz Mutige laufen direkt durch die lockere Bullenkette, die Bullen kriegen Panik und ziehen Ihr Pfefferspray und ballern los, eine unglaubliche Dynamik entfaltet sich, und nach zwei Minuten ist es passiert, die Gruppe ist frei, alles rennt Richtung Norden, Sirenen überall, ein paar Böller gehen noch hoch, dann ist es vorbei. War wohl doch ein Kessel, was modernes, ein dynamischer Kessel. Was für eine Kraft eine Masse von Menschen entfalten kann wenn der Kessel kocht. „Die Bullen wollen dass die in die Meile laufen, die wollen dass die Bürger sich erschrecken und die jungen Antifas mal wieder die Bösen sind, und die Nazis die braven Marschierer“ entfährt es Rusk. Da kann was dran sein, denke ich, bei den Chefs weiß man nie so genau was für eine Agenda die haben, und wir entschließen uns ebenfalls Richtung Meile zu gehen, rennen ist in dem Alter echt nicht mehr drin, gerade bei unserer Masse, wir bringen jeder locker 95 kg auf die Waage.

Nach zweihundert Metern ist Schluss, eine Polizeikette versperrt den Weg. „Sie können hier nicht durch, drehen Sie bitte um, es gab Ausschreitungen, das ist zu Ihrer eigenen Sicherheit.“ Einige Bürger drehen ab, sind irritiert, ein junger Antifa, der wohl auch nicht mehr so schnell laufen konnte, rennt auf einen der jungen Bullen los, schreit ihn an, „die wollen uns alle töten, wenn der könnte würde er das tun“, er ist super aggressiv, geht immer näher an ihn ran, der junge Bulle ist sichtlich gestresst, nervös, spult seinen Text runter, der junge Antifa kommt ihm immer näher und schreit weiter. „Mensch, hör doch auf damit, der kann doch auch nix dafür, das ist ein armer Kerl, der froh ist einen Job zu haben, der hat Frau und Kinder daheim, kriegt kaum genug Geld für die Scheiße die er tun muss, seine Bosse sind verantwortlich dafür was hier abgeht!“ versuche ich ihn zu beruhigen. Der junge Antifa ist echt voll auf Adrenalin, und wohl nicht die hellste Kerze auf der Torte.

Rusk zieht mich zur Seite, „komm, lass uns drum herum laufen, Magdeburg ist schön weitläufig, die können nicht alle breiten Straßen und Plätze absperren, ich muss pissen“. Wir biegen rechts ab, nach hundert Metern wieder links, wir sind am südlichen Ende des Domplatzes. Am anderen Ende sehen wir wie die Horde junger Antifas in enger aber lockerer Formation „Traube“ über den Platz eilt, die haben es also geschafft und sind rechtzeitig vor dem südlichen Ende der „Meile der Demokratie“ wieder Richtung Elbe abgebogen, Respekt, keine schlechte Leistung für hundert Meter Landgewinn in Richtung Elbe. „Ist ja nochmal gut gegangen, stell Dir vor die Bullen hätten die in die Meile getrieben, oder die wären selber so blöd gewesen und da reingelaufen“ bricht es aus Rusk raus; wir biegen wieder links ab und werden ruhiger, den Weg kennen wir, der Anfang der Meile, mittlerweile ganz schön voll, die Leute sind wach in Magdeburg, und die Buden sind alle umringt von Menschen. „Sollen wir was essen?“, fragt Rusk. „ja, hier guck mal, vegetarische Soljanka für mich, mit Fleischkram für dich“ schlage ich vor. Und wir bezahlen was es uns wert ist, schmeckt lecker, hm, und wärmt. „Wie viel Uhr ist es jetzt eigentlich“ fragen wir uns. Ah, kurz vor 14:00 Uhr zeigt die Uhr an der Kirche. So richtig warm ist mir immer noch nicht. „Der Bus fährt in viereinhalb Stunden, lass uns zum Bahnhof laufen und mit dem Zug zurück nach Berlin fahren“ schlage ich vor; mir reicht‘s, ich bin jetzt am Arsch nach der Woche, und was ich heute hier erlebt hab reicht für die nächsten zehn Wochen. Rusk überlegt kurz, nickt dann, denkt noch ein bisschen laut vor sich hin; „Gut, dann da lang, aber lass uns nochmal in das Einkaufszentrum da gehen, ich muss jetzt echt pissen wie ein russisches Rennpferd“. Rein in das Zentrum, vorbei am Wachschutz, runter zu den Pissoirs, Rusk läuft zügig rein. Ich setze mich und überlege ob ich mich für zwei Euro auf dem Massagestuhl vergnügen soll. Ach nee, die Leute gucken mich dann bestimmt komisch an. Rusk kommt raus aus dem Klo. “Der Drops ist gelutscht, habe zwei Antifas belauscht, die meinten dass bisher keine Nazis in Sichtweite waren, die Meile geschützt werden konnte, war ein Erfolg heute“.

Das bestärkt uns in unserem Beschluss, wir laufen weiter zum Bahnhof, sagen per SMS im Bus Bescheid dass die beiden dicken Großmäuler schon losgefahren sind, und um 15:06 Uhr fährt unser Regionalexpress pünktlich ab, ein Hoch auf die Deutsche Bahn. Ein paar Stullen später sind wir gegen 18:30 Uhr wieder daheim in unserem Kiez. Jetzt ausruhen und entspannen, morgen geht es weiter mit der Karl und Rosa Demo; „Nee, ich bin zu fertig, ich muss ausschlafen, lass mal die anderen machen, wir sind viele, ich will noch nicht sterben“ kommt es aus mir raus. „Geht mir genauso, ich geh jetzt auch bald ins Bett, treffen wir uns nach der Demo gegen Mittag mit den anderen“, befindet Rusk, „bis morgen dann“, Umarmung, ich hab ihn so gern.

Epilog:

Gegen 21:00 Uhr ruft mich Rusk an; ich sitze seit zwei Stunden nur da und gähne und quatsche mit meiner Liebsten und einer Freundin von Ihr; Rusk war schon wieder beim bloggen, und erzählt, dass es ab 15:00 Uhr in Magdeburg nochmal richtig abging, und an die 800 Nazis zwei Stunden lang durch den Südteil der Stadt marschiert sind. Scheiße. Das hat Magdeburg nicht verdient. Ich mag diese Stadt, die Menschen, wie sie sich als Zivilgesellschaft da auf der Meile engagiert haben; und die müssen doch sehen, dass ohne die junge Antifa, bei aller Kritik an deren Duktus und uniformem Auftreten, die Nazibande ungehindert fast überall in der Stadt marschieren könnte. Der Verfassungsschutz arbeitet für die NPD, und die Bullen machen halt immer nur das, was ihnen von Ihren Chefs gesagt wird, das reicht nicht!

Eine Antwort zu “Mein Magdeburg Nazifrei (Januar 2013)

  1. Liest sich gut. Aber insgesamt hört sich der Event ziemlich unorganisiert und chaotisch an. Ob man so wirklich etwas gegen Nazis erreichen kann?

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